London: Minimalismus mit Rhythmus

Architektur, 29.03.24
Marlies Forenbacher
Wenn Architekt:innen ihr eigenes Haus bauen, dann sind die Ansprüche hoch. Ist es auch noch das erste Projekt, darf man staunen. Das junge Londoner Büro ao-ft hat sich selbst den ersten Auftrag gegeben und ihr Wohnhaus in Kombination mit Studio umgesetzt.

„Spruce house“, auf Deutsch „das Fichtenhaus“, befindet sich in einem denkmalgeschützten Gebiet an der ehemaligen Hauptstraße eines Villages in London, umgeben von unterschiedlichen Haustypen, die sich im Laufe des letzten Jahrhunderts von Einzelhandelsflächen in Wohnhäuser verwandelt haben. Das junge Londoner Architekturbüro ao-ft hat auf dem weitläufigen Grundstück in Walthamstow, East London, sein erstes Projekt und eigenes Wohnhaus mit eigenständigem Designstudio fertiggestellt. Anhand eines minimalistischen Konzepts exerziert es den Holzbau vom Feinsten durch und dient damit als ideales Referenzprojekt für eine zukünftige Bauklientel.

Reminiszenz

In Anspielung auf die historischen Ursprünge des Standorts wandelte ao-ft den Neubau aus Brettsperrholz in eine moderne Ladenfront um. Die Verglasung erstreckt sich über das gesamte Erdgeschoss und wird in der Breite durch vertikale Holzleisten und Pfosten unterbrochen. „Die beiden Gebäude wurden so entworfen, dass sie sich sanft in das Straßenbild und den Ort einfügen, aber auch interessant und reizvoll sind. Es ist ein faszinierender Gestaltungsprozess, Orte zu schaffen, die ihre historischen Ursprünge und ihre Funktionen neu interpretieren“, erläutert Liz Tatarintseva von ao-ft den Entwurfsprozess.Schlanke vertikale Holzlatten und Pfosten wechseln sich rhythmisch ab und bilden den Kontrast zwischen Erd- und Obergeschoss. Unterschiedliche Schichten und Abstände regeln die Sichtbarkeit ins Innere beziehungsweise den Blick nach außen.

„Wir nutzten das Projekt als Erkundung von Materialien bereits im Entwurfs­prozess, und von nachhaltigem Bauen, indem wir unter­suchten, wie wir Orte bauen können, die schön sind und minimale Umweltauswirkungen haben.“ – Zach Fluker & Liz Tatarintseva, ao–ft

Minimierter Fußabdruck

Die sichtbare und für die Umgebung unübliche Holzkonstruktion ersetzt ein bestehendes Gebäude aus den 1960er-Jahren, das sich in einem schlechten baulichen und materiellen Zustand befand. Da das vorherige Gebäude nicht mehr zu retten war, setzte ao-ft es sich zum Ziel, ein Haus zu entwerfen, das seinen ökologischen Fußabdruck durch alle Aspekte seiner Konstruktion minimiert. Dies spiegelt das Interesse des jungen Büros an nachhaltiger Konstruktion und Fertigung wider. „Nach der Untersuchung verschiedener Baumethoden entschieden wir uns, die Hauptstruktur aus CLT zu entwerfen, da diese nicht nur umweltfreundlich ist, sondern auch als sichtbarer Innenausbau schön aussieht“, erklären ao-ft ihre Entscheidung. Die Verwendung natürlicher Materialien und die enge Verbindung mit dem begrünten hinteren Garten prägen das Raumgefühl. Durch präzise Detaillierung filtern die dicht gesetzten Holzlatten straßenseitig Licht ins Innere, verhindern aber Einblicke. Ein sehr loser Rhythmus vom Haus in den Garten inszeniert kontemplativ die Sicht ins Grüne, und das Freilassen ganzer Felder im Obergeschoss öffnet das Haus durch Fenster nach außen.

Die speziell gefrästen, vorgefertigten Paneele binden und speichern 37 t Kohlendioxid und wurden vor Ort in nur fünf Tagen montiert. Dadurch, dass die Paneele im Inneren offen liegen, wird der Bedarf an anderen Baumaterialien wie Gips oder Farbe reduziert, und sichergestellt, dass das Haus so wenig Plastik wie möglich enthält.

Eingebettet in Natur

Der Grundriss, der an ein traditionelles viktorianisches Reihenhaus erinnert, bettet den Wohnraum durch einen Kunstgriff in den Garten ein. Durch Absenken des Niveaus um einen halben Meter befinden sich die Bewohner:innen im Inneren des Hauses auf Höhe der Gartenbeete, was ein großzügiges Gefühl für das Volumen des Erdgeschosses vermittelt. Alle Details sind fein und reduziert durchdacht – Fensterbänke aus Gussbeton werden durch die raumhohe Verglasung begrenzt, maßgefertigte Einbauschränke erstrecken sich flächig entlang der Wände und erübrigen jedes weitere Möbel als Stauraum. Rohe Materialien – Holz, Edelstahl, polierter Beton und weiß perforierter Stahl – sind bewusst so angeordnet, dass sie Licht übertragen und Schatten einfangen, wodurch im ganzen Haus ständig wechselnde Texturen und Muster entstehen.

Als besonders ausgetüftelt zeigt sich die Treppe, die das Rückgrat des Hauses bildet und die Erfahrung als Industriedesigner:innen verrät. Als Bausatz aus 24 einzelnen, ineinandergreifenden Stufen bestehend lässt sie Licht und Luft aus dem großen Dachfenster durch die Perforationen strömen. „Der 5 mm dicke Stahl wurde mit einem Laser geschnitten und mit einem Roboter millimetergenau gefaltet, bevor er mit einem Kran eingefahren, auf Maß geprüft, entfernt und vor der endgültigen Montage an Ort und Stelle pulverbeschichtet wurde.“ Kein Detail wird hier dem Zufall überlassen. So wurden auch die Türen raumhoch ausgebildet, aus CLT gefertigt und die Griffe bündig eingelegt. Sie unterstreichen damit die durchgehenden Sichtlinien und den aufs Wesentliche reduzierten Raum. Während das Erdgeschoss Wohn- und Ess­raum sowie die Küche beherbergt, befinden sich im ersten Stock Schlafzimmer und Familienbad und im zweiten Stock das dritte Hauptschlafzimmer mit eigenem Bad. Aufklappbare Paneele aus Fichte versorgen die Innenräume mit Licht und erlauben eine spielerische Bewegung an der Außenfassade.

Eigenes Atelier und Designstudio

Im hinteren Teil des langen, zwölf Meter tiefen Gartens befindet sich das freistehende Designstudio. Ebenfalls als Holzbau ausgeführt – Lärchenholz außen und Fichte innen – filtern Oberlichten und freiliegende Dachsparren die Sonne ins Innere und öffnen es zu einem zweiten, kleineren Garten auf der Rückseite. Beim Garten, der Haus und Atelier verbindet, wurde besonders auf Artenvielfalt geachtet. Als erstes abgeschlossenes Projekt stellt „Spruce House“ ein wichtiges Referenzprojekt des jungen Londoner Ateliers dar, das seinen Architekturansatz, nämlich „die Zyklen der Natur mit der gebauten Umwelt zu verbinden“, sichtbar macht. Bei Baulücken, die im gesamten Vereinigten Königreich eine große architektonische Herausforderung darstellen, könnten auf diese Weise die Vorteile der nachhaltigen, flexiblen Bauweise bei der Schaffung von Gebäuden genutzt werden, um ihr Umfeld zu beleben und den Menschen über viele Jahre hinweg einen angenehmen Wohn- und Arbeitsraum zu bieten.

Daten & Fakten

  • Architektur: ao-ft, London
  • Bauherr:innen: privat
  • Statiker:innen: Entuitive
  • Planungsbeginn: Januar 2018
  • Baubeginn: Februar 2020
  • Fertigstellung: Oktober 2021
  • Errichtungskosten: 480.000 € netto
  • C02-Emissionen: 336 kg/m2a
  • Nettogrundfläche: 132 m2
  • Haustechnikkonzept: Gaskessel und MEV mit natürlicher Querlüftung und öffenbarem Dachfenster
  • Heizwärmebedarf: 73 kWh/m2a
  • Materialkonzept: Brettsperrholz (CLT)
  • Wärmeschutz: PIR-Dämmung
  • Innenwände: BSP (Construkt CLT)
  • Außenwände: Sibirische Lärchenholz­verschalung (Russwood)
  • Fenster: Doppelt verglaste Fenster
  • Dach: Schiefer und einschalige ­Membrane
  • Fundamentplatte: Beton
  • Beleuchtungstechnik: Orluna LED-Einbauspots
  • Qualitäten der wirtschaftlichen Nachhaltigkeit: Damit das Projekt im Rahmen des Budgets realisiert werden konnte, wurde der Bau in vier Teile aufgeteilt: Abbruch/Grundarbeiten, CLT, Haupt- sowie Treppenhaus. Um die Stahlarbeiten und das Betonfundament zu minimieren, wurde der Holzrohbau optimiert. Auch im Innenbereich setzte man auf einen schlanken Ansatz bei den Details.
  • Qualitäten der sozialen Nachhaltigkeit: Das Projekt zeigt die Vorteile einer nachhaltigen, flexiblen Bauweise und ist Vorbild für weitere Standorte in Großbritannien.
  • Qualitäten der ökologischen Nachhaltigkeit: Das Büro verfolgt eine Architektur, die die Zyklen der Natur mit der gebauten Umwelt verbindet. Der Anteil des Holzes wurde erhöht, der des Stahls und Betons minimiert. Das Gebäude inklusive Stahltreppe wurde so konstruiert, dass eine Demontierung möglich ist. Die Ziegel vom Bestandsgebäude wurden für die Bodenarbeiten wiederverwendet. Zudem wurde eine Sickergrube zwischen Haus und Studio angelegt.