Ukraine: Wiederaufbau in Grün

Branche, 01.10.24
Helena Zottmann
Mit dem Wiederaufbau wartet man nicht, bis die Angriffe vorbei sind. Seit in der Ukraine die ersten Gebäude zerstört wurden, wird wieder aufgebaut, repariert, saniert. Auch der Neubau nimmt einen großen Stellenwert ein: Das Land will sich auf neue, grüne Beine stellen.

Ein Screensharing wurde gestartet“: Karin Stieldorf ist mit dieser Form des Wissensaustausches inzwischen vertraut. Spätestens seit der Kooperation mit dem Ort Trostjanez im Osten der Ukraine im vergangenen Wintersemester gehören digitale Meetings für sie zur Routine. Die Architektin leitete jahrelang das Fach „Entwerfen“ an der Fakultät für Architektur an der TU Wien und ist seit rund zehn Jahren Leiterin des Lehrgangs „Nachhaltig bauen“. Zuletzt betreute sie ein Studierendenprojekt, das sich mit dem Wiederaufbau und dem Neubau in der Ukraine befasste. Sie spricht über Breitengrade und Klimatabellen und stellt damit das Planungsgebiet in der Stadt Trostjanez in der Ostukraine vor, das sie selbst nur aus Streetview-Ansichten und Beschreibungen ihrer Kooperationspartner:innen vor Ort kennt. „Die Fernerkundung spielt bei einem solchen Projekt natürlich eine besonders große Rolle“, sagt sie. Dass das Klima in Trostjanez dem Klima von Wien sehr ähnlich ist, erleichterte die Sache sehr. „Besonders für den Holzbau“, sagt sie.

Häuser für die Kriegsgeschädigten

Trostjanez wurde als eine der ersten Städte angegriffen und auch als erstes wieder befreit. Ende März 2023 zogen die russischen Truppen ab, seither versucht die Stadt ihren Alltag wieder aufzubauen. Neben dem Wiederaufbau und der Soforthilfe spielt der Blick nach vorn die größte Rolle. „Unsere Partner:innen in Trostjanez wollten nicht nur die Aufräumarbeiten von uns begleiten lassen“, erzählt Karin Stieldorf. „Die Stadt liegt hübsch an einem See und will sich als touristischer Ort attraktiv positionieren.“ Und dafür brauche es moderne, ansprechende Gebäude. Die Kooperation der TU Wien mit Trostjanez unter Stieldorfs Leitung ergab sich letztes Jahr. „Ich wollte nicht nur etwas Interessantes, sondern vor allem etwas Sinnvolles für die Menschen vor Ort initiieren“, so Stieldorf. So entstand eine Kooperation mit Partnerunternehmen vor Ort und mit den Stadtplaner:innen von Trostjanez. Darüber hinaus konnte sie auf den Masterplan von CES (Clean Energy Solutions), einem Partnerunternehmen der österreichischen icConsulenten, aufbauen. CES entwickelt integrative Lösungen für den nachhaltigen Städtebau.

Gedanken zur Kreislauf­fähigkeit standen bei dem Projekt im Zentrum. So beschäftigte man sich z. B. mit der Aufbereitung von Trümmerschutt.

Recycling im großen Stil

Gedanken zur Kreislauffähigkeit standen beim Projekt im Zentrum. Im Sinne einer nachhaltigen Herangehensweise wurde überlegt, welche Potenziale aus dem Bestand zu nutzen wären. Die Studierenden beschäftigen sich also mit der Aufbereitung von Trümmerschutt – beispielsweise von Ziegelschutt zu Ziegelit – oder mit der Nutzung von abfallenden Ressourcen wie Stroh. Die Ukraine hat als ein wesentlicher Versorger des Weltmarktes mit Getreide eine entsprechend große Menge Strohabfall. Diese Ressource zu nutzen würde aber eine Veränderung des Marktes bedingen, denn Strohabfall wird hier fast ausschließlich eingeackert. Auch was den Baustoff Holz betrifft, hat die Ukraine keine nennenswerte Tradition. Ziegel, Stein oder Beton spielten die größere Rolle. Dabei hätte das Land mehr als genug Holz: Die Waldfläche der Ukraine beträgt rund 9,4 Mio. ha, was die Waldfläche Polens um eine halbe Million Hektar übersteigt. „Wir haben uns überlegt, welche Holzarten man nehmen könnte und wo man diese herbekommt“, erklärt die Lehrgangsleiterin. Die Holzindustrie der Ukraine sei so aufgestellt, dass sie die benötigten Ressourcen regional zur Verfügung stellen kann. Neubauten aus Holz kämen in Trostjanez jedenfalls gut in Frage, so die Erkenntnisse dieser jüngsten Projektarbeit.